logo for

No.9 Forget Long Belong Remember

Sabine Eggmann, Patricia Jäggi, Alexandra Neukomm, Jaehee Shin

buy print version (CHF 15 + shipping)
annual subscription (CHF 60 + shipping)
download PDF version

[DE] „Wenn ich mich weigere zu erinnern, bin ich eigentlich bereit, alles zu tun.“ Nach Hannah Arendt ist das Erinnern die Grundlage für ein kritisches Handeln in der Gegenwart. Dabei stellt sich die Frage, woran wir uns erinnern wollen und welche Stützen wir dazu bauen: Statuen und Legenden, Lieder, Feind- und Vorbilder, Ideen und Rituale. Und wie wir diese Bruchstücke verinnerlichen, um sie als Teile unserer selbst in der Gegenwart zu aktualisieren. Doch mit welchen Mythen werden Symbole wie die Notre-Dame gefüllt? Wie steht es um die Schweizer Berge, um Persepolis, die Seidenstrasse und das Römische Reich? Und wie um all das, was wir vergessen haben? Selektives Erinnern birgt die Gefahr der Romantisierung und mit ihr das Leid der Nostalgie – ein toxisches Begehren danach, was nicht mehr ist und vielleicht nie war. Doch der Besuch der vom Erdbeben zerstörten Stadt Bam war real, ist als leibliche Erfahrung in den Körper sedimentiert und steht bereit, durch den einen Geruch, die eine Farbe oder das eine Lied gegenwärtig zu werden. Was ich bin ist was ich geworden bin, ist was ich zu oft erinnert und wiederholt habe, als dass es keinen Teil von mir hätte werden können. Unsere von wiederholten Performanzen geprägten Körper produzieren die Illusion, ganz tief in uns drin einen Kern zu verspüren, der uns zu dem macht, was wir sind. Dass dieser Kern Überschneidungen mit anderen Kernen aufweist, wird weniger mit Erinnerungspraktiken erklärt, als mit der Vorstellung verwechselt, es gäbe einen latenten Zusammenhalt zwischen Menschen ähnlicher Natur. Unsereins. Doch vielleicht sollten wir Hannah Arendt nicht vergessen und uns daran erinnern, was wir vergessen wollten. Forget Long Belong Remember beginnt mit einem Heimatgefühl, ausgelöst durch die physische Präsenz eines reich verzierten Speichers in Wyssachen, dessen unbewältigte Geschichte sich die in der Schweiz beheimatete koreanische Architektin Jaehee Shin aneignet. Dass dieses Gefühlskonstrukt Heimat nicht nur kuscheliger Rückzugsort bedeutet, sondern verknüpft ist mit latenten Vorstellungen dazu, wie ein Leben im Hier und Jetzt zu sein hat, macht Sabine Eggmann deutlich, wenn sie aufgreift, wie latent vorhandene Selbstverständlichkeiten in einer SRF-Volksmusiksendung hinterfragt und verteidigt werden. Wie in der Heimat auch eine Sehnsucht nach dem Anderen erwachsen kann, etwa dann, wenn fremde Klänge unmittelbar ein tiefliegendes Verlangen hervorrufen, zeigt Alexandra Neukomm mit ihrer Erzählung zu dem ersten koreanischen Jodler Kim Hong Chul. Dass uns Klänge an Dinge erinnern, an deren sinnliche Qualität wir in kognitiver Erinnerungsarbeit nicht gelangen, ist schliesslich Gegenstand von Patricia Jäggis Essay: Selbst wenn leibliche Erinnerungspraktiken auf Konfabulation fussen, können sie der Verlebendigung dessen dienen, was nicht vergessen gehen soll.

Forget Long Belong Remember erscheint im Dialog mit der Ausstellung Parting Persepolis von Lale Keyhani.

[EN] “If I refuse to remember, I am actually ready to do anything.” According to Hannah Arendt, remembering is crucial for critical action. This raises the question of what we want to remember and what structures we build for supporting this purpose: Statues and legends, enemies and role models, songs, ideas and rituals. And how we internalize these fragments in order to actualize them as parts of ourselves in the present. But what myths have been attached to symbols such as Notre-Dame? What about the Swiss mountains, Persepolis, the Silk Road and the Roman Empire? What about everything we have forgotten? Selective memory carries the risk of romanticization and nostalgia—a toxic desire for what is no longer and perhaps never was. But the visit to the city of Bam, destroyed by the earthquake, was real, has become an embodied experience and is ready to materialize through that one smell, that one color or that one song. What I am is what I have become, is what I’ve remembered and repeated too often for it not to have become part of me. Our bodies, shaped and molded by repetition, produce the illusion of having a core deep within us that determines who we are. But this core shows similarities to other cores. A circumstance that is explained less by practices of remembrance than it is confused with the notion of a latent cohesion between people of similar nature. Our kind. But perhaps we should not forget Hannah Arendt and remember what we wanted to forget. Forget Long Belong Remember begins with a sense of home, triggered by the physical presence of an ornate granary in Wyssachen, whose unresolved history Swiss-based Korean architect Jaehee Shin is uncovering. The fact that the emotional construct of home is not just a cozy place of retreat, but is also linked to latent ideas about the right way of living, is made clear by Sabine Eggmann in showing how self-evident ideas are negotiated in a popular music television program. How yearning can arise even at home and foreign sounds can evoke deepseated desire is shown in Alexandra Neukomm’s story about the first Korean yodeler, Kim Hong Chul. Finally, Patricia Jäggi shows how sound helps us to remember things whose sensual quality we cannot access through cognition: even if embodied memory is based on confabulation, it can serve to bring to life what should not be forgotten.

Forget Long Belong Remember appears in dialogue with the exhibition Parting Persepolis by Lale Keyhani.

images