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No.10 Free Market Solidarity Fear

Laura Bäumel, Ian Bruff, Damien Cahill, Lisa Marie Münster

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[DE] Die Gemeinschaft der Kesh, die nach Ursula K. Le Guin „einst lang, lang nach unserer Zeit gelebt haben werden könnte“, versteht unter Reichtum den Zustand, viel geben zu können, ohne eine äquivalente Gegengabe zu erwarten. Bereits heute ist es möglich, abseits von Käufen, vertraglich geregelten Leistungen oder strategischem Schenken etwas zu geben, ohne eine Gegengabe zu erwarten, und auf indirekte, gegenseitige Hilfe zu vertrauen. Was daraus erwächst ist Dankbarkeit – eine Kraft, die sozialen Zusammenhalt nicht garantiert, sondern fördert. Sie bildet den Kitt einer Gemeinschaft, in der Einbringen und Annehmen freiwillig geschieht. Nehme ich hingegen etwas an, nicht weil ich es möchte, sondern weil ich es brauche und es mir niemand sonst geben kann, dann willige ich ein, ohne Dankbarkeit aber in Misstrauen. Denn jetzt können Gegenleistungen erzwungen werden, auch wenn die Gabe als Geschenk verpackt war. Denn beschenkt wurde die gebende Seite, und zwar mit Macht. In Free Market Solidarity Fear räumt Ian Bruff mit dem gängigen Mythos auf, Neoliberalismus habe etwas mit freien Märkten zu tun. Diese Illusion aus dem Weg geräumt, schärft er den Blick auf monopolistische Unternehmen, die sich mit politischem Rückenwind der profitablen Aufgabe der Wohlfahrt widmen. Den albtraumhaften Fahrtwind nutzend, spült uns Lisa Marie Münster von der Wirtschaftstheorie in die konkrete Alltagserfahrung von Studierenden an heutigen Universitäten: Entmenschlichte Fachsoldat*innen eifern in ihrer einsamen Existenz als Matrikelnummer dem Ziel hinterher, in einer entfremdeten Welt als Arbeitskraft wiedergeboren zu werden. Aus derselben Institution berichtet Damien Cahill von einer latent immanenten Angst vor „Restrukturierung“: Forschende versehen ihre Research Outputs deshalb mit Kapitalvermehrungspotenzial und versuchen möglichst die Grenzen angestammter Weltbilder einzuhalten, um niemanden vor den Kopf zu stossen. Denn die nostalgische Rückbesinnung auf angestammte und geordnete Strukturen wird politisch genutzt und gefördert, um einen imaginären Zufluchtsort vor alltäglichen Unsicherheiten des Neoliberalismus zu schaffen. Ein solches retronormatives Begehren findet schliesslich Ausdruck in Laura Bäumels Studie zu fabrikarbeitenden Müttern, die das längst erodierte Modell des männlichen Alleinverdieners romantisieren, und sich immer mehr mit rechter Politik denn mit Gewerkschaften solidarisieren.

Free Market Solidarity Fear erscheint im Dialog mit der Ausstellung Grounds von Marta Riniker-Radich.

[EN] The Kesh people, who according to Ursula K. Le Guin “might be going to have lived a long, long time from now,” define wealth as the ability to give a lot without expecting an equivalent return. Today already, aside from purchases, contractually agreed upon services or strategic donations, one can give without expecting anything in return, relying instead upon indirect, mutual aid. What can emerge therefrom is gratitude—a force that does not guarantee but rather fosters social cohesion. It is a glue that holds a community together, in which contribution and reception are based on voluntary participation. If, though, I accept something not because I want it, but because I need it and no one else can give it to me, then I consent not with gratitude but with mistrust. In this instance, even if the giving is wrapped up as a gift, something can be demanded in return. For it was the giver who was rewarded—with power. In Free Market Solidarity Fear, Ian Bruff dispels the common myth that neoliberalism has anything to do with free markets. Having removed this illusion, he sharpens the focus on monopolistic companies that, with political tailwind, take on the profitable task of providing welfare. Jumping on the nightmare bandwagon, Lisa Marie Münster takes us from economic theory to the real-life experience of students at today’s universities: flocks of academic sheep live out a lonely existence as registration numbers, waiting to be reborn as human capital in an alienated world. From within the same institution, Damien Cahill tells of an inherent latent fear of “restructuring”— which leads scholars to tailor their research “outputs” to the expectations of capital and to stay within the binaries of established worldviews so as not to offend anyone. For retronormative desires, such as those for a “proper” traditional family, are politically exploited in order to build an imaginary refuge from the daily uncertainties of neoliberalism. Such desires come to light in Laura Bäumel’s study of female factory workers—mothers who romanticize the long-eroded model of the male breadwinner and increasingly align themselves with right-wing politics rather than with trade unions.

Free Market Solidarity Fear appears in dialogue with the exhibition Grounds by Marta Riniker-Radich.

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